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Wie gerecht ist Österreich? 1,9 Millionen Nettozahler, 6 Millionen Empfänger

Kanzler Faymann hat die „Zeit für Gerechtigkeit“ ausgerufen. In der Realität scheitert dieser Anspruch an allen Ecken und Enden: Jung gegen Alt, Manager gegen Normalos, Beamte gegen Privatwirtschaft, Männer gegen Frauen.

Zeit für Gerechtigkeit. Ein cooler Spruch, ein flotter Slogan. Kanzler Werner Faymann lässt sich seit Frühlingsbeginn mit diesen kessen Worten auf den Lippen österreichweit plakatieren und trifft nach der Finanzkrise die Stimmung der Bevölkerung auf den Punkt. Der Wohlstand im Land ist nicht gleichmäßig verteilt, und er werde es ändern. Das war die Botschaft.

Nun, eine Budgeterstellung später, hat die Verteilungsdebatte, die der Kanzler losgetreten hat, neue Nahrung erhalten. Aus allen Ecken hagelt es Kritik am Budgetentwurf der Regierung. Tenor: „Die Pläne sind unsozial.“ Da sind sich Familienvertreter, Hilfsorganisationen und Kirche einig. Die SPÖ redet sich auf den Koalitionspartner aus, mit dem nicht mehr möglich gewesen sei. Die ÖVP verteidigt die Besserverdiener, die schon über Gebühr belastet wären.

Aber was ist gerecht? Werner Faymann versteht darunter etwas anderes als ÖVP-Chef Josef Pröll oder dessen Onkel Erwin. Es gibt keinen objektiven Gerechtigkeitsbegriff. Natürlich wird es ein Familienvater, der sich rundum einschränken muss, als ungerecht empfinden, wenn die Familienförderung in Summe um 400 Millionen Euro gekürzt wird – und ihm noch ein paar Hundert Euro im Jahr fehlen.

Andererseits werden in Österreich stolze 78 Milliarden Euro jährlich durch Transferzahlungen im Sozial- und Gesundheitsbereich umverteilt. Darunter fallen Zuschüsse zu Pensionen ebenso wie Familienleistungen oder Zuschüsse zum Gesundheits- und Pflegesystem. 1,9 Millionen Menschen sind Nettotransferzahler, die das System finanzieren. Sechs Millionen Bürger sind Netto-Empfänger, darunter auch 1,8 Millionen Erwerbstätige, die weniger an Steuern einzahlen, als sie an Transferleistungen von der öffentlichen Hand bekommen. Ein Nettotransferzahler schultert in Österreich also drei Nettotransferbezieher. Damit wird auch nachvollziehbar, dass die Zahler eine weitere Erhöhung ihrer Belastung nicht als Beitrag zu mehr Gerechtigkeit betrachten.

Tatsache ist: Ohne das auf Leistung basierende Marktwirtschaftssystem zu gefährden, wird sich das Umverteilungsvolumen von 78 Milliarden Euro nicht mehr nennenswert steigern lassen. Auch zahlreiche internationale Vergleiche zeigen, dass Wohlstand hierzulande einigermaßen „gerecht“ verteilt ist. Und anders, als die Diskussion oft vermuten lässt, scheint die Mehrzahl der Österreicher nicht grundsätzlich anderer Meinung zu sein, da sich ihr Zorn, anders als jener von Deutschen, Franzosen oder Griechen, nicht auf der Straße entlädt, sondern bestenfalls an der Wahlurne.

Das heißt aber nicht, dass es keinen Handlungsbedarf gäbe. Denn die Lasten sind vielfach ungleich verteilt. Der Mittelstand, der sich laut dem WIFO-Experten Alois Guger zwischen 2.700 und 7.400 Euro Haushaltseinkommen bewegt, zahlt den Löwenanteil des Steueraufkommens, und zwar aus seinem Arbeitseinkommen. Demgegenüber waren Kapitalerträge bislang klar bevorzugt, was durch die neue Vermögenszuwachssteuer nun wenigstens abgemildert werden soll. Auch die Managereinkommen stiegen in den vergangenen Jahren rasant, während sich die durchschnittlichen Reallöhne nur mickrig erhöhten.

Aufholbedarf gibt es nach wie vor bei Frauen, was finanzielle Gleichbehandlung mit Männern betrifft. Und auf der Verliererseite werden die Jungen stehen, wenn sich die Politik nicht bald zu gravierenden Pensionsreformen durchringt. Dann werden die Zuschüsse nämlich so große Teile des Budgets verschlingen, dass für andere Sozialleistungen immer weniger bleibt.

(Quelle: format.at, 15.11.2010)

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