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Martin Prinz: "Warum ist uns die Generationenlüge nie aufgefallen?"

Ich lese, dass der Staat 2009 für Pensionszahlungen mehr Geld als für Schulen und Universitäten ausgegeben hat

Wie viele Jahre es noch bis zur Pension sind, frage ich mich als Schriftsteller allerdings nicht.

Einmal ganz abgesehen vom Tod - was frage ich mich, wenn ich an das Altwerden denke? Oder, denn das ist manchmal leichter, was frage ich mich nicht? Wie viele Jahre es noch bis zur Pension sind, frage ich mich als Schriftsteller zum Beispiel nicht. Vermutlich stellte ich mir eine solche Frage zuletzt als Jugendlicher, und das mit Schrecken, angesichts damals unweigerlich in Sichtweite gekommener Bildungs- und Ausbildungsentscheidungen und ihrer wohl oder übel bestehenden Verbindung zur irgendwann beginnenden Lohnarbeit. Als Schriftsteller hingegen bleiben mir Fragen nach der Pensionierung hoffentlich lange erspart. Dürfte ich mir etwas wünschen, bis zum Tod.

Gleichzeitig lese ich, dass der Staat 2009 für Pensionszahlungen mehr Geld als für Schulen und Universitäten ausgegeben hat. Oder begreife nur langsam und schwer, dass es mittlerweile einen eigenen Pensionistenpreisindex (PIPH) als Basis für die jährlichen Verhandlungen zur Pensionsanpassung gibt. Ein Index, der im Gegensatz zu jenem für alle anderen Lohn- und Tarifverhandlungen geltenden Verbraucherpreisindex Jahr für Jahr eine um 0,2 bis 0,4 Prozent höhere Inflation feststellt, und damit offensichtlich eine Verhandlungsgrundlage für höhere Abschlüsse. Für andere Bevölkerungsgruppen, selbst wenn es für sie durchaus höhere Berechtigung gäbe, wie Bernd Marin in einer Standard-Kolumne über den PIPH meinte, existiert kein einziger eigener Index. Weder ein Armen-Index noch einer für Alleinerziehende, ebenso wenig einer für Mehrkindfamilien - und das ist nur der Beginn einer Liste.

Doch wird eben keine Bevölkerungsgruppe von einer ähnlich mächtigen Lobby wie jener der 1,85 Millionen Pensionisten vertreten. Am allerwenigsten ihre Kinder- und Enkelgeneration. Die "Endverbraucher" , wie Rüdiger Safransky unsere rund um 1970 geborene Generation nennt, die nicht einmal mehr genug Kinder bekommen, um noch in Generationsketten zu denken. Damit ist uns, auch abseits unserer offenkundigen Unfähigkeit zu gesellschaftspolitischem Auftreten, abseits von NGOs und anderer Special-Interest-Groups, das moralische Recht auf Protest und Anklage verdächtig schnell abgeschnitten. Gerade wenn es um Generationenfragen und Verantwortung geht. Und damit nicht zuletzt um die Frage, warum uns die längste Zeit nicht aufgefallen ist, welcher Generationen-Lüge wir aufsitzen.

Die Lüge, von der ich hier schreibe, ist nicht zuletzt eine Kindheitsgeschichte. Keine, die ich meinen Eltern persönlich vorwerfen dürfte. Denn gingen sie in den 70er-Jahren als Mittzwanziger mit uns Kindern durch die Geschäfte, konnte ihnen doch die Verwunderung, was es hier alles zu kaufen gebe, verstärkt noch durch die ständigen Wunschaugen der Kinder, gar nichts anderes als die Feststellung abringen, wie gut es uns gehe, und vor allem um wie viel besser als ihnen.

Dass sich anhand des Geburtenknicks schon in den Siebzigern hätte ablesen lassen können, was auf die gerade zur Welt gebrachte Generation alles zukommen sollte, lässt sich angesichts der als unmöglich einzulösenden moralischen Bringschuld der "Es-geht-Euch-doch-um-so-viel-besser" -Sätze heute nur als gesellschaftlicher Vorwurf äußern.

Eine Anklage, die jedoch kaum auftaucht, da sie viel zu tief in uns als etwas sitzt, das wir unseren Kinderwünschen in den Süßigkeiten- oder Spielzeugabteilungen gegenüber zwar als erstickend oder ungerecht empfunden hatten, doch in seiner Bedeutung für unser eigenes Erwachsenenleben die längste Zeit nicht durchschauten. Vielmehr sind wir in einiger Hinsicht bis heute das Kind, das von seiner Banane abbeißt und dabei nicht versteht, was die oft gehörte Tatsache, dass seine Eltern in dem Alter Bananen gar nicht kannten, ihm für sein Leben und diesen Bissen Banane sagen soll.

Ihr Zombies! Wir Zombies!

Viel Zeit ist auf diese Weise stumm vergangen. Bereits in den 90er-Jahren hätte uns klar sein müssen, wie die vermeintlich privilegierte Lage unserer Generation aussah. Befristete Anstellungen, vorübergehende Projekte, unbezahlte Praktika, Tagelöhnerei, Minijobs, neue Selbstständigkeit oder von Shareholder-Values anstatt tatsächlicher Bilanzen bestimmte Arbeitsplätze: Ganz gleich, ob in der Generation Prekariat, als Arbeiter oder als Lehrlinge, wie deutlich sich unser Berufsleben von den geradlinigen Erwerbsbiografien unserer Eltern unterscheidet, füllt längst Bücher, gesellschaftspolitischer Antrieb ist es für uns jedoch keiner.

Stattdessen verschluckt das seit der frühen Kindheit geläufige "Es-geht-euch-viel-zu-gut" bis heute den Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse, verkleistert das Politische mit Privatem und sorgt gerade dort für Vereinzelung, wo jeder Protest, jede Anklage und jede Erinnerung gesellschaftlich verankert sein müsste.

Es geht uns tatsächlich gut

Es geht uns tatsächlich gut. Im Vergleich - immer noch. Vielleicht nicht viel zu gut, aber weiterhin gut. Und diese längst in Fleisch und Blut übergegangene Selbstbeschwichtigung lähmt, macht blicklos, blind und einsam, sobald es uns hinter dem Es-geht-uns-gut einmal doch nicht gutgeht. Dann blicken wir bestenfalls auf uns selbst, suchen Therapie, Analyse, Selbsterfahrung oder Esoterik und gelangen aus unseren gehegten Vorgärten des Psychischen längst nur mehr zur Selbstdarstellung hinaus ins Soziale, wie Facebook es als drastisch genauer Gesellschaftsspiegel uns vor den Benutzeroberflächen unserer Bildschirme in aller Vereinzelung zeigt.

Wie aber sollen wir wissen, wie es uns wirklich geht, wenn uns die gemeinsamen Erfahrungen fehlen, selbst solche des Widerstands, da eine uns seit der Kindheit aufgepfropfte Doktrin bis heute dafür sorgt, dass jeglicher Protest gegen allzu unverschämte Pensionserhöhungen oder Frühpensionsregelungen für unsere Elterngeneration verschämt und schnell zurückgezogen wird, sobald auch nur Echos der früheren Moralpredigten auftauchen, was sie und unsere Großeltern alles durchgemacht hätten, um das Land wieder aufzubauen.

Tatsächlich, es ist nicht zu leugnen, die beiden Generationen haben "alles" wieder aufgebaut. Irgendwann am Ende meiner Kindheit waren in Lilienfeld auch die letzten Häuser mit Einschusslöchern frisch verputzt, in den Wäldern kaum noch Handgranaten zu finden, während selbst die kleinste Ortschaft im Tal bald mindestens einen neonbeleuchteten Supermarkt auf einer der Kuhwiesen am Ortsrand stehen hatte.

So gut kann es natürlich nicht jedem auf der Welt gehen. Das haben wir gelernt, also beschweren wir uns nicht, sondern spenden, auch das haben wir gelernt, und sind immer richtig erschüttert, wenn wir sehen, wie es "anderen" geht. Damit wir nicht vergessen, zufrieden zu sein. Und das sind wir. Im richtigen Moment erschüttert, im richtigen zufrieden.

Da kann man nichts machen

Dass die Schutzzölle und Preisstützungen unserer Staaten den Hunger der anderen mitverursachen, ist leider eine "politische Sache" . Da kann man nichts machen. Vor allem, wenn einen der Blick auf die anderen doch zufrieden machen soll.

Unsere anderen, die Generation, die uns aufzog, sorgt vor den Augen unserer Selbstzufriedenheit derweil umso reger dafür, dass es in unserem Land bald eine Bevölkerungsmehrheit der Pensionierten geben wird. Und auch darin ist es ein Bild der Kindheit, das nun meinen Blick prägt. Die Erinnerung an jene graumelierten "Jugendlichen" aus der "Bio-Lecithin-Werbung" und ihre scheinbar unverwüstlich frisch in die alten Gesichter gegerbte Jugendlichkeit. Zombies. Selbst wenn ich damals noch gar kein Wort dafür hatte. Denn damals als Kind waren sie für mich noch an der Grenze zur Lächerlichkeit.

Heute sind sie Normalität. Mit Nordic-Walking-Stöcken oder Mountain-Bikes, auf Abenteuer- oder Bildungsreisen, im Wellness-Spa, Golfclub, Fitnesscenter oder den höchsten Bergen. Und wir, die wir ihnen nicht nur diesen Spaß bezahlen, sondern vor allem ihre, mit Geld allein längst nicht mehr zu begleichende, Hinterlassenschaft eines nur mit blinder Ressourcenausbeutung möglichen Wirtschaftswachstumshybrids.

Und wir zahlen zu Recht, solange wir uns weiterhin selbst verwirklichen, anstatt gemeinsam gegen eine Wirklichkeit anzutreten, in der wir nicht nur unseren topfitten Zombies ihr langes Leben im Ausgedinge finanzieren, sondern unsere vereinzelten Kinder zum Bruch des Generationenvertrags geradezu zwingen, da wir die biochemischen oder gar gentechnischen Möglichkeiten in Sachen Antiaging erst richtig ausreizen werden.

Über den Autor:
Martin Prinz, geb. 1973 in Wien, ist ein österreichischer Schriftsteller. Prinz studierte Theaterwissenschaft und Germanistik. 2000 war er Stipendiat des Berliner Kultursenats im Literarischen Colloquium und bekam im gleichen Jahr den Anerkennungspreis für Literatur des Landes Niederösterreich. 2002 erhielt er die Autorenprämie des österreichischen Bundeskanzleramtes und den Förderungspreis für Literatur der Stadt Wien. Sein Roman "Der Räuber"  über den österreichischen Bankräuber Johann Kastenberger bildete die Vorlage für den 2010 erschienenen gleichnamigen Film "Der Räuber" . Zuletzt erschien von ihm das Buch "Über die Alpen. Von Triest nach Monaco. Zu Fuß durch eine verschwindende Landschaft"  (Jung und Jung, München 2010), basierend auf einem Alpenblog, den Prinz regelmäßig auf derstandard.at publizierte.

(Quelle: Martin Prinz / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4./5.12.2010)

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