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Gesellschaft: Die Mär von den wütenden Alten

Eine alternde Gesellschaft, die zunehmend Probleme hat, mit dem sozialen Wandel fertig zu werden. Senioren, die jede Veränderung bekämpfen. Was ist dran an der These von den alten Besitzstandwahrern?

Wer alt ist, denkt wenig an die Zukunft. Die Jahre, die man noch hat, will man möglichst angenehm verbringen – und sich nicht mehr mit Veränderungen herumschlagen. Ein Befund des „Spiegels“, der vergangene Woche rund um die Proteste gegen den neuen Stuttgarter Bahnhof, aber auch rund um die deutsche Integrationsdebatte den Begriff des „Wutbürgers“ kreiert hat: hauptsächlich ältere Menschen, die mit Zähnen und Klauen alles bekämpfen, was Veränderung bedeutet. Doch was ist dran an der damit verbundenen These, dass eine alternde Gesellschaft zunehmend erlahme? Dass durch „die Alten“, die am liebsten einen Kokon um das Leben, wie sie es kennen, spinnen würden, womöglich ein ganzes Land resistent gegen Neuerung und Wandel wird?

Handy? Sicher nicht. „Ich habe ganz bewusst kein Handy und kein Internet“, sagt Mara Herrnstadt. „Weil ich nur mehr so wenig Lebenszeit habe.“ Mit diesem Zugang ist die 65-Jährige in ihrer Runde aber eher allein: Im „Aktiven Zentrum“ am Wiener Spittelberg trifft sich regelmäßig eine Gruppe von Damen zwischen 60 und 70 Jahren, die sich genau mit dem Thema Wandel beschäftigt. „Netzwerk, Perspektiven, Engagement“ lautet der Titel dieser Treffen. So fortschrittlich wie der Titel klingt, denkt auch der Großteil der Teilnehmerinnen. Sie können durchaus mit neuer Technik, Handy und Internet etwas anfangen, auch wenn sie einen bewussten, vielleicht sogar sparsamen Umgang damit pflegen.

Ein Eindruck, der auch abseits dieser Runde nicht täuscht – denn Computer und Internet gewinnen auch bei älteren Menschen zunehmend an Bedeutung. „Die Bereitschaft zur Technologienutzung steigt“, sagt Hans-Joachim von Kondratowitz vom Deutschen Zentrum für Altersfragen in Berlin. Eine gewisse Vorsicht, ja, die gebe es schon. Aber mit ein wenig Unterstützung trauen sich auch die Alten zunehmend an das Thema heran. „Man muss nur wissen, wie es funktioniert.“ Dabei tun sich natürlich jene Menschen leichter, die eine höhere Bildung haben, die auch schon vorher mit Technik zu tun hatten – und die auch grundsätzlich bereit sind, sich auf neue Dinge überhaupt noch einlassen zu wollen.

Mehr als die Technik beschäftigt die Senioren aber etwas anderes. Es ist der soziale Wandel, wie man ihn tagtäglich erlebt, und der bei vielen Unbehagen hervorruft. Dass etwa die Kinder zwar liebevoller erzogen werden, dadurch aber der Respekt vor älteren Menschen auf der Strecke bleibt, wie es in der Runde am Spittelberg oft zu hören ist. Aber auch, dass die eigenen Kinder sich so lange Zeit mit dem Nachwuchs lassen – und sie nicht und nicht ihre Rolle als Großeltern spielen können. Auch der wachsende Druck in der Arbeitswelt und die daraus entstehende Egozentrik ist vielen älteren Menschen unheimlich.

Wirklich emotional wird es aber meist erst beim Thema Migration. „Die Migranten wollen sich nicht integrieren. Die wollen nur die sozialen Errungenschaften.“ Eine Aussage, der alle Mitglieder der Turngruppe des Wiener Seniorenbundes in Hernals zustimmen können. Die Worte „sich fremd fühlen“ fallen oft in der Runde, die sich in ihrem Vereinslokal in Hernals trifft. „Und es sind vor allem die Moslems.“

Man kann mit Muslimen nicht viel anfangen. Auf einmal waren sie da, wohnten in denselben Wohnsiedlungen, gingen in dieselben Geschäfte – und fielen durch äußere Zeichen wie das Kopftuch auf. Früher gab es das nicht. „Wenn man mit Menschen aus 26 verschiedenen Kulturen zur Schule gegangen ist, dann wird man diese Vielfalt als normal erleben. Die Älteren haben das noch nicht so erlebt.“ John Casti, US-Mathematiker und Autor, der sich zuletzt vor allem mit gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigt hat, bringt es auf den Punkt. Was man nicht kennt, bedeutet zunächst einmal Unsicherheit und Ablehnung. „Menschen wollen keine Veränderung“, meint er. „Und je älter man wird, desto weniger.“

Angst vor Überfremdung. Dieser Logik folgend müssen es dann auch „die Alten“ sein, die jene politischen Kräfte unterstützen, die mit dem Unbehagen vor Veränderungen spielen. Tatsächlich war bei der Wiener Gemeinderatswahl die FPÖ vor allem bei älteren Menschen erfolgreich. Die Angst vor dem Unbekannten scheint hier zumindest ein Wahlmotiv unter mehreren gewesen zu sein.

Doch sind es tatsächlich nur „die Alten“, die aus Angst vor „Überfremdung“ zu rechtspopulistischen Ansagen neigen? Mitnichten. Die jüngste Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Deutschland zeigte auf, dass vor allem die Jugend mit Migranten so ihre Probleme hat. Und dass der Wunsch nach einem autoritären System ebenfalls eher bei der jüngeren Generation zu finden ist. Eines, so Altersforscher von Kondratowitz, lasse sich jedenfalls ganz klar sagen: „Die Alten sind nicht die Vorhut einer reaktionären Masse, wie ihnen das häufig unterstellt wird.“

Ganz im Gegenteil. Das Bild der Alten hat sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt. „Alt sein ist heute schon anders als früher“, sagt Christa Holtermann. Die 61-Jährige zählt zu den aktiven, jungen Alten. Sie ist viel unterwegs, bucht ihre Reisen im Internet und hält Kontakt zu den Jungen. „Meine Mutter konnte das nicht genießen. Sie hat immer nur gearbeitet.“ Für die Senioren von heute gibt es dagegen durchaus eine aktive Zeit nach dem aktiven Arbeitsleben. Nicht wenige wagen dann sogar einen neuen Aufbruch.

Sex im hohen Alter. Man versucht, sich selbst zu verwirklichen, noch etwas Neues zu beginnen – ein Studium an der Uni, einen Sprachkurs im Ausland und vielleicht sogar einen Partnerwechsel. Tatsächlich ist die Scheidungsrate älterer Menschen in den letzten Jahren durchaus im Steigen begriffen. Und „Nacktbadestrand“, das Buch der 80-jährigen Elfriede Vavrik über ihre sexuellen Erlebnisse im hohen Alter, ist nur der sichtbare Gipfel eines auch ganz und gar veränderten Zugangs alter Menschen zum Sexualleben.

Wichtigste Voraussetzung dafür, das Alter so entspannt angehen zu können, ist vor allem eines: Gesundheit. Die ist heute auch bei alten Menschen so gut wie nie zuvor. Die gute medizinische Versorgung lässt Menschen immer älter werden – und auch immer länger leistungsfähig bleiben. Wer allerdings gesundheitliche Probleme hat, kann manche Dinge nicht mehr machen – und traut sich dann auch andere Dinge nicht mehr zu, die er sonst eigentlich noch bewältigen würde. Ein Teufelskreis, der dazu führt, dass man sich immer weiter zurückzieht und mit der Zeit sämtliche soziale Kontakte verliert. Wer einsam vor sich hin brütet, steigert aber im Normalfall nur noch die eigene Verbitterung.

Genau hier begegnen wir jener Gruppe, die zuletzt als „Wutbürger“ klassifiziert wurde. Frustrierte alte Menschen haben die größten Probleme mit Wandel jeglicher Art. Aber wie kommt es, dass die einen positiver und glücklicher altern, während die anderen ihren Frust deutlich sichtbar mit sich herumtragen, etwa in ständig nach unten gezogenen Mundwinkeln?

Für Gerontopsychologen Gerald Gatterer ist vor allem entscheidend, dass man eine Aufgabe hat – dadurch ist man davor geschützt, irgendwann von versteckten Frustrationen oder erlebten Krisen dominiert zu werden. Umso wichtiger ist es, dass man lernt, positiv zu altern. „Wir lernen verschiedene Strategien, wie man mit Belastungen und Konflikten umgeht“, sagt Gatterer, Als erste Strategie ist das häufig die aktive Auseinandersetzung („Es gibt nichts, was man nicht schafft, wenn man sich bemüht“). Klappt das nicht, versucht man, Hilfe zu holen. Geht auch das nicht, bleibt als letzter Weg oft nur mehr, um sich zu schlagen. Wieder ein Punkt für den „Wutbürger“.

Heilige Kuh Pension. Aber nicht nur einzelne Menschen müssen mit einer sich ständig wandelnden Welt umgehen. Die Gesellschaft als Ganzes ergraut mit ihren Mitgliedern. Und gerade in Mitteleuropa ist der Bevölkerungsdurchschnitt so alt wie nie zuvor. Die Lebenserwartung steigt, dafür sinken die Geburtenzahlen. Eine Gesellschaft mit vielen Alten muss sich darauf einstellen, dass die wenigen Jungen immer mehr Menschen erhalten müssen, die bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Dass der fehlende Nachwuchs durch Zuwanderung aufgefüllt wird. Und dass die Älteren immer länger im Arbeitsprozess bleiben müssen, damit das System tragfähig bleibt. All das sind Veränderungen, die bei aller Notwendigkeit grundsätzlichen Widerstand auslösen.

Selbst optimistische, zufriedene Senioren können plötzlich ihre Stacheln aufstellen und in Verteidigungsposition gehen, wenn es darum geht, sich gegen Angriffe von außen zu verteidigen. „Wohlerworbene Rechte“ ist der Kampfbegriff der Pensionistenvertreter, die bei Pensionsverhandlungen um jede Stelle hinter dem Komma erbittert feilschen.

Wohlerworbene Rechte. „Die Jungen sagen immer, sie zahlen unsere Pension. So ein Blödsinn, die hab ich selbst eingezahlt. Und noch dazu deren Schulbildung“, sagt der 72-jährige Karl aus der Hernalser Turngruppe. Zustimmendes Nicken. Also lauter verbitterte „Alte“, voll Angst vor Verschlechterung ihrer Situation? „Das Verteidigen sogenannter wohlerworbener Rechte ist in allen drin, das ist eine Folge des Wohlfahrtsstaats“, sagt Gerontologe Josef Hörl vom Institut für Soziologie an der Uni Wien. „Die Pensionsversicherung ist der Kern des Wohlfahrtsstaates.“

Dass die Alten deswegen egoistisch sind, lässt sich daraus aber nicht ablesen. Denn, so Horst Opaschowski, Leiter der deutschen Stiftung für Zukunftsfragen: „Die Unterstützungsbereitschaft der Alten gegenüber den Jungen war noch nie so groß.“ Ältere Menschen würden ihr Geld nicht für ihre Bedürfnisse zusammenhalten, sondern für die nachfolgende Generation. „Die Alten leben nicht auf Kosten der Jungen.“

Auf der anderen Seite gönnt die junge Generation den Alten auch ihren Ruhestand. Noch mehr, man kämpft oft sogar Seite an Seite gegen jegliche Verschlechterung – derzeit etwa in Frankreich, wo sogar Jugendliche gegen die Erhöhung des Pensionsalters von 60 auf 62 Jahre auf die Straße gehen. Es geht ja auch um die eigene Zukunft. Sollte es das Wutbürgertum als gesellschaftliche Strömung tatsächlich geben, so ist es jedenfalls nicht ausschließlich den Alten vorbehalten.

(Quelle: "Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2010)

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