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Demografische Lücke oder Lüge?

Wer behauptet, die Pensionen des Jahres 2050 seien gesichert, ist ein Scharlatan - Wer das Gegenteil behauptet, ist es ebenso - Von Michael Amon

Monokausale Erklärungen sind von zeitloser Eleganz, ohne Ecken und Kanten, logisch klingend, überfordern den Hausverstand nicht und ihre einleuchtende Simplizität macht sie schwer widerlegbar. Sie brauchen eine gewisse Reifezeit, um ihr wahres Wesen zu zeigen. Im Gegensatz zu Käse oder Wein werden sie nicht genussreif, sondern bleiben entweder Käse oder machen - zu Essig gebrochen - nicht mehr so schön wissenstrunken wie anfangs.

Einst zogen Flagellanten wehklagend durch Europa und halfen mit ihren ausgemergelten Körpern jene Pest zu verbreiten, die sie als Strafe Gottes ausgaben. Heute ziehen Pensionsexperten durchs Land und beschwören die demografische Lücke mitsamt Zusammenbruch des Pensionssystems. Dass sie damit mehr zum Zusammenbruch der Altersversorgung beitragen als zu deren Sicherung, haben sie im übertragenen Sinn mit den Flagellanten gemein.

Wenn SVA-Direktor Thomas Neumann, wie unlängst an dieser Stelle, mit unheilschwangeren Worten ("eine Lücke von immer bedrohlicherem Ausmaß") die Apokalypse des Pensionssystems beschwört, steht er in der langen Tradition der Flagellanten, deren Fantasien lustvoll im imaginierten Weltuntergang baden.

In seinem Fall ist die demografische Lücke nur ein Vorwand, um das Pensionsantrittsalter zu erhöhen und in einem Aufwaschen die Pensionshöhe dauerhaft zu senken, weil sich bei "aller Komplexität unserer Sozialsysteme" das Finanzierungsproblem auf "die längere Lebenserwartung" reduziert. - Ja, unser Pensionssystem weist haarsträubende Ungerechtigkeiten auf. Die Differenz zwischen Beamtenpension und ASVG-Rente ist unzumutbar, die Hacklerregelung Schwachsinn. Die Altersteilzeit kostet eine halbe Milliarde Euro (die Hälfte der aktiven Arbeitsmarktmittel), Inanspruchnahme durch 0,7 Prozent der Erwerbstätigen. Höchstkosten mit Minimalwirkung: null Arbeitsplätze, da keine Einstellungspflicht. So kann ein Unternehmen innerhalb von fünf Jahren über 100.000 Euro pro Altersteilzeit kassieren, ohne auch nur einen Arbeitsplatz zu schaffen. All das gehört ersatzlos gestrichen. Bloß: Mit Demografie hat das nichts zu tun.

Ebenfalls unbestreitbar ist der demografische Faktor eine Milchmädchenrechnung: alternde Gesellschaft, niedriges Pensionsantrittsalter, höhere Lebenserwartung. Immer weniger "Aktive" müssen immer mehr Pensionisten erhalten. Zumindest in der Theorie. Denn bei dieser Rechnung wird übersehen, dass die Zahl der "Aktiven" sich nur wenig ändert, ebenso die Summe aller "Passiven", wenn man die Gesamtzahl der Nicht-Erwerbstätigen betrachtet: Es wird weniger Kinder und mehr Pensionisten geben. Unten fallen Kosten weg (Kindergärten, Schulen, Unis, Kinderärzte, Familienbeihilfen), während es oben, bei den Älteren, teurer wird (Renten, Pflege, Altersheime). Ob das ein Nullsummenspiel wird oder die Kosten weit größer sein werden als die Ersparnisse, kann niemand seriös vorhersagen.

Das ist auch nicht die Frage, die lautet vielmehr: Können die zukünftigen Erwerbstätigen ausreichend Güter und Dienstleistungen herstellen, um die nicht Erwerbstätigen zu versorgen. Daran besteht wenig Zweifel in Zeiten von Überproduktion und Massenarbeitslosigkeit.

Das Problem der Demografie reduziert sich auf die Verteilungsfrage bzw, auf den politischen Willen, das Sozialsystem zu finanzieren. Hier liegt der Mangel. Trotz der schlechten Erfahrungen mit der privaten Eigenvorsorge versuchen manche aber noch immer, die öffentliche Altersversorgung zugunsten der Privatversicherer zu minimieren.

Mangel an Vorstellungskraft

Das ist der Subtext des Kommentars von Thomas Neumann. Das kommt den "Staat" billiger, nicht aber den Einzelnen, dem es egal ist, ob sein verfügbares Einkommen von höheren SV-Beiträgen oder durch die Privatvorsorge verringert wird. Beinahe egal! Es ist historisch evident, dass nur der Staat über große Zeiträume hinweg Pensionen halbwegs sichern kann - mit dem Mittel des Generationenvertrages.

Den Verehrern der demografischen Lücke fehlt es an Vorstellungskraft. 1900 war ein Bauernstand mit wenigen Prozent Bevölkerungsanteil Utopie. Bei Einführung des ASVG 1956 war ein Pensionsbeitrag von fast 23 Prozent jenseitig.

Die von Neumann bejammerte Steuerquote sagt nichts aus - trotz ihrer Steigerung von 29 auf 43 Prozent sind die realen Nettoeinkommen gestiegen (sonst wären wir ja verarmt, wenn der Staat uns so viel mehr abknöpfelt). Weder Steuerquote noch SV-Beitrag, weder Pensionsdauer noch Anzahl der Pensionisten haben zwingend Einfluss auf die Pensionshöhe. Es ist die Produktivität, stupid!

Hochrechnungen monokausaler Modelle führen in die Irre. Vorhersagen über Jahrzehnte sind naturgemäß falsch. Niemand ahnte 1950, dass 2010 in Privathaushalten mehr Rechenleistung im Kinderzimmer steht, als damals auf der ganzen TU. IBM hat den Weltbedarf an Großrechnern auf ein Dutzend Stück geschätzt. 1960 wurde uns das Leben in überdachten Städten prophezeit, vom Internet keine Spur.

In den Rechnungen der Demoskopen fehlen Wechselwirkungen: Wie beeinflusst der Klimawandel die Ökonomie? Welche bahnbrechenden Erfindungen werden unser Leben verändern? Im 19. Jahrhundert war das Jahr 2010 unvorstellbar: weltweite Vernetzung, Handy, Tablett-PC, Flugzeug, Massenautomobilisierung, Milliarden Reisende. Vergesst die Hochrechnungen!

Es gibt keine Pensionsreform, die heute die Probleme des Jahres 2050 löst - die zukünftigen Probleme sind unbekannt, vielleicht vielfältiger, sicher aber anders als die Demografie vorgibt zu wissen. Wer heute behauptet, die Pensionen des Jahres 2050 seien sicher, ist ein Scharlatan. Aber wer das Gegenteil behauptet, ist es ebenso.

(Quelle: Der Standard, Print-Ausgabe 3. September 2010)

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