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"Bei Pflege wird in Österreich defizitär gedacht"

Pflege zu Hause ist den meisten lieber als lange Spitalsaufenthalte. Das System macht es mobilen Pflegefachkräften schwer

Pflege zu Hause ist den meisten lieber als lange Spitalsaufenthalte. Das System macht es mobilen Pflegefachkräften schwer, klagen Natalie Lottersberger, Geschäftsführerin von Malteser Care-Ring, und der Wundmanager Peter Kurz. Warum das so ist, erklärt Hansjörg Hofer, stellvertretender Sektionschef und Experte im Sozialministerium. Karin Pollack moderierte.

STANDARD: Pflege zu Hause wünschen sich viele Menschen. Mit welchen Hindernissen ist man in diesem Bereich konfrontiert?

Lottersberger: Unsere Organisation versorgt Menschen, die zu Hause gepflegt werden müssen. Das sind durchaus nicht nur alte Menschen, sondern Patienten nach Operationen, chronisch Kranke, auch Kinder. Sie haben alle unterschiedliche Pflegebedürfnisse. Das Problem: Unser Gesundheitssystem ist nicht auf die Betreuung zu Hause ausgerichtet. Unsere Leistungen werden vom System nicht honoriert. Dabei ist die Lage vor allem im ländlichen Raum besonders schlecht. Wir als selbstständige Pflegefachkräfte können und wollen Lücken schließen, scheitern aber am System.

Kurz: Ich berate und versorge Menschen mit schlecht heilenden Wunden. Zirka 250.000 Betroffene gibt es in Österreich, und sie zu Hause zu versorgen ist sinnvoll. Für diese Art von Fachpflege stellt der Staat keine Mittel zur Verfügung, und Menschen, die sich das nicht leisten können, müssen mehrmals pro Woche in überfüllten Spitalsambulanzen warten, um versorgt zu werden. Wundmanagement zu Hause müssen sich die Patienten heute selbst zahlen. In Anbetracht der demografischen Entwicklungen werden solche Patienten mehr werden. Warum reagiert das Gesundheitssystem nicht darauf, obwohl es im Resultat eigentlich nur Gewinner gäbe?

Hofer: Hier bedarf es einer grundlegenden Klarstellung. Zum einen: Wer ist wofür zuständig? In der Pflege ist diese Frage sehr einfach: Für das Pflegegeld von Pensionisten ist der Bund zuständig, das Geld wird von der Pensionsversicherungsanstalt ausbezahlt. Pflegebedürftige, die nicht in Pension sind, erhalten die Gelder von den Ländern, und zwar für Sachleistungen, von denen Sie beide eben gesprochen haben. Da gibt es eine Vereinbarung zwischen Bund und Ländern: Geld kommt vom Bund, Sachleistung von den Ländern. Eine zweite wichtige Klarstellung: Pflege und Betreuung sind nicht dasselbe. Unter Pflege fallen die medizinischen Leistungen im Krankenhaus, die Nachbetreuung (Anm.: gemeint ist die Hauskrankenpflege) ist aber mit der Pflegevorsorge nicht zu verwechseln.

STANDARD: Sind die Grenzen zwischen Pflege und medizinischer Betreuung nicht zunehmend fließend?

Hofer: Die Langzeitbetreuung von Menschen mit Pflegebedarf ist Pflege im eigentlichen Sinne der Pflegevorsorge. Und für uns ist das dann eher Betreuung. Nach unserem Verständnis hat Pflege nicht primär einen medizinischen Ansatz, sondern eine Betreuung. Ursprünglich war Pflege ja eine Sache der Familie. Doch die Gesellschaft hat sich verändert. Es gibt immer weniger Großfamilien, in den meisten Haushalten arbeiten auch die Frauen, die Wohnungen sind zu klein für mehrere Generationen. Es stimmt schon: Wir brauchen Alternativen, und wir arbeiten daran.

Lottersberger: Für uns ist die Tatsache, dass Gesundheit und Soziales nicht gemeinsam gesehen werden, sondern aus zwei getrennten Töpfen finanziert werden, das größte Problem. Im Grunde genommen bietet wir medizinische Sachleistungen an, doch wir gehören zur Pflege. Dass selbstständige Pflegefachkräfte zu keiner dieser Gruppen gehören, ist ungerecht. Wir leisten wertvolle Arbeit, bieten Menschen, denen es schlecht geht, unsere Hilfe langfristig an, begleiten sie und managen ihr Leben. Dadurch ersparen wir dem Gesundheitssystem viel Geld. Für mich ist unverständlich, warum das System diesen Beitrag nicht honoriert. Das System der Pflege greift aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr.

Hofer: Ich muss eine Beamtenantwort geben: Medizinische Versorgung liegt nicht im Bereich des Sozialministeriums, aber der Bund ist interessiert daran, dass ein sach- und bedarfsgerechter Ausbau der Dienstleistungen erfolgt. Uns sind die Qualitätskriterien wichtig. Es gibt große Uneinheitlichkeit innerhalb der verschiedenen Bundesländer, je nach Budget und Leistungen können Patienten mit derselben Erkrankung und demselben Pflegeaufwand vollkommen unterschiedlich betreut werden. Am Ende wollen wir allen Österreichern unabhängig vom Bundesland eine vergleichbare Leistung bieten können. Versorgung, Betreuung und Kostentragung sollte weitgehend ident sein.

STANDARD: Wäre es nicht sinnvoll, Kräfte zu bündeln?

Hofer: Es gibt mehrere Schnittstellen. Krankenpflege zu Hause ist nicht einfach, weil es unterschiedliche Interessen gibt. Weil in Krankenhäusern nicht mehr nach Tagsatz, sondern nach Diagnose bezahlt wird, werden Menschen rascher entlassen.

Lottersberger: Und weil das oft nicht möglich ist, liegen viele Pflegebedürftige in Akutbetten, obwohl sie dort nicht hingehören.

Hofer: Stimmt, es gibt vielleicht auch zu wenige Pflegeplätze.

Kurz: Aber nicht nur in der Pflege gibt es Probleme, auch in anderen Bereichen. Qualität und Zeit sind Schlüsselbegriffe in der Patientenversorgung. Ein Arztbesuch im niedergelassenen Bereich dauert drei Minuten 30 Sekunden. Eine Wundversorgung dauert viel zu lange, als dass sie ein niedergelassener Arzt professionell versorgen könnte. Ich behandle jeden Tag viele Patienten und nehme mir viel Zeit für sie. Da kann aus der Wundversorgung eine durchaus ganzheitliche Betreuung werden. Auch das entlastet das System, weil durch konsequente Behandlung die Heilungsrate deutlich steigt.

STANDARD: Warum nicht ein Brückenschlag mit dem Gesundheitsministerium?

Hofer: Weil wir Krankenbehandlung als Gesundheitspolitik verstehen und die Betreuung von Pflegebedürftigen nicht. Da ist der Zustand ja nicht behandelbar

Lottersberger: Dieser Trennung kann ich nichts abgewinnen. In Österreich wird immer defizitär gedacht. Es ist falsch, es erst brennen zu lassen, um es dann löschen zu können, und nicht daran zu denken, wie sich Feuer von vornherein verhindern lässt. Prävention ist ein Schlüsselbegriff.

Hofer: Aber wir ergreifen ja Initiative, haben Qualitätssicherung in der Pflege zum Thema gemacht. Von den zirka 420.000 Pflegegeldbeziehern lassen wir 17.000 pro Jahr zu Hause besuchen. Außerdem haben wir auf die Kritik der Pflegefachkräfte reagiert, die sich beschwerten, dass immer nur Ärzte über die Pflegegeldstufe bestimmen. Da gibt es jetzt ein Pilotprojekt, in dem parallele Begutachtungen stattfinden.

Kurz: Es geht immer um die Lebensqualität von Patienten. Der Gesetzgeber nennt es medizinische Hauskrankenpflege, aber dieses Konzept greift zu kurz. Es beinhaltet nicht spezialisierte Leistungen.

Lottersberger: Medizinische Hauskrankenpflege wird ja nur bis zu vier Wochen finanziert - nach Operationen. Das bedeutet: Patienten bekommen 8 Euro 65 Cent pro Tag. Das ist ein Verlustgeschäft.

Hofer: Das ist Sache des Gesundheitssystems. Wir arbeiten in unterschiedlichen Bereichen. Und alle wissen, dass wir uns in der mobilen Pflege anstrengen müssen. Der Knackpunkt ist und bleibt wenig überraschend die Finanzierung. Pflege kostet viel Geld.

Lottersberger: Aber wir machen sie doch mit unserer Leistung kostengünstiger.

Hofer: Volkswirtschaftlich gesehen, ja. Da haben Sie recht, Sie helfen sparen. Die budgetäre Wirklichkeit sieht aber so aus: Die Spareffekte treten in anderen Bereich auf als die Kosteneffekte. Der Nachteil der Budgetlogik ist, dass der Staat kein Gesamtbudget hat, sondern jedes Ministerium sein eigenes.

Es ist nicht gesagt, dass das, was volkswirtschaftlich sinnvoll ist, auch im einzelnen Ressort sinnvoll ist. Es kann also sein, dass ein Ministerium Mehrkosten hat, die in einem anderen Bereich zu Einsparungen führen. Das schlägt sich dann aber nirgendwo nieder - und kann deshalb dann auch nicht als Erfolg verbucht werden. Ich weiß, das ist schwer nachvollziehbar, aber es ist eine Realität. Der Gewinn für die Gesellschaft scheint auf diese Weise nirgendwo auf.

(Quelle: DER STANDARD, Printausgabe, 22.11.2010)

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