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"An mehr Flexibilität führt kein Weg vorbei"

Wolfgang Lutz ist Österreichs führender Bevölkerungsexperte - ein Gespräch über Prozesse des Alterns und junge Gesellschaften

Standard: Demografen warnen seit einiger Zeit davor, dass unsere Gesellschaft altert. Wie und wann kam es eigentlich dazu?

Lutz: Als Zunahme des mittleren Alters der Bevölkerung bzw. des Anteils der über 60-Jährigen definiert, ist das Altern eine logische Konsequenz des Anstiegs der Lebenserwartung und des Rückgangs der Geburtenraten. Das Phänomen ist bei uns über ein Jahrhundert alt, auch wenn sich die Geschwindigkeit, mit der die Gesellschaften in Europa, Nordamerika und Teilen Asiens älter werden, in den letzten Jahren noch beschleunigt hat.

Standard: Was bedingte diese Beschleunigung?

Lutz: Der Prozess ist überall der Gleiche: Zunächst sinken die Sterberaten durch einen höheren Lebensstandard und bessere medizinische Versorgung. Je mehr Kinder pro Familie überleben, desto weniger Kinder werden in den nächsten Generationen in die Welt gesetzt. Auch die bessere Bildung der Frauen spielt hier eine wichtige Rolle. Viele Entwicklungsländer, vor allem in Afrika, sind noch mitten in diesem Prozess, den man demografischen Übergang nennt.

Standard: In der Öffentlichkeit wird vielfach bereits von einer "Überalterung" - zumindest im Hinblick auf die nächsten Jahrzehnte - gesprochen. Was sagt die Demografie zu dieser Diagnose?

Lutz: Ich halte diesen Begriff und die Diagnose für falsch. Eigentlich ist es schon problematisch, vom "Altern" einer Gesellschaft zu sprechen. Mit unserer eigenen Erfahrung des Alterns hat er jedenfalls wenig zu tun: Als Person reifen wir, werden stärker - und ab einem bestimmten Zeitpunkt nehmen dann bestimmte Fähigkeiten wieder ab, während andere - wie etwa die Erfahrung - zunehmen. Das kann man nicht auf eine Gesellschaft umlegen.

Standard: Warum?

Lutz: Weil sich eine Gesellschaft durch Geburten und Zuwanderung ständig selbst erneuert. Dazu kommt, dass die Gleichung "je älter, umso weniger leistungsfähig" so sicher nicht richtig ist. Wir haben an unserem Institut ein großes Sample Firmendaten ausgewertet, die sowohl ausweisen, wie die Altersstruktur der Mitarbeiter und die Produktivität der Firma aussieht. Und dabei zeigten sich einerseits große Unterschiede je nach Sparte, andererseits aber vor allen, dass eine gewisse Durchmischung am besten ist. Und das scheint auch für die Gesellschaft insgesamt zu gelten.

Standard: Aber haben jüngere Gesellschaften nicht doch Vorteile?

Lutz: Nicht unbedingt. Denken Sie nur an afrikanische Staaten, deren Bevölkerung zur Hälfte unter 15 Jahre alt ist. Diese Länder sind sicher nicht leistungsfähiger als ältere Gesellschaften. Aber auch Populationen mit einem besonders hohen Anteil von Menschen zwischen 15 und 25 haben Probleme, zumal, wenn es sich um junge Männer mit wenig Bildung handelt. Ein Überschuss an jungen Männern war immer wieder mit ein Grund, dass Kriege begonnen wurden.

Standard: Zurück zu Österreich: Sind wir hier ausreichend darauf vorbereitet, dass wir älter werden?

Lutz: Das Problem liegt bei uns primär beim Pensionssystem, das vom Ansatz her völlig veraltet ist, weil nichtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Gesundheit oder Arbeitswille die entscheidende Rolle spielen, sondern starre Vorgaben zu Alter und Beitragszeit. Zudem ist das Anreizsystem in den meisten Fällen so gestaltet, dass die Leute dumm wären, würden sie nicht schon früher in Pension gehen. Wenn man das heutige durchschnittliche Pensionsantrittsalter von 58 Jahren auf 2030 anwendet, wo wir viel mehr Menschen in diesem Alter haben werden, sind Probleme unausweichlich. Darüber hinaus halten sich die Probleme aber in Grenzen - wenn die Gesellschaften entsprechend flexibel reagieren.

Standard: Frauen leben im Schnitt länger als Männer und gehen früher in Pension. Was halten Sie von dieser Regelung ...

Lutz: ... die in Österreich absurderweise sogar in der Verfassung festgeschrieben ist. Sie gilt ja - so wurde argumentiert - als Ausgleich, um die Benachteiligungen der Frauen zu kompensieren. Was eine eigenartige Methode ist: Denn statt bei der Benachteiligungen der Frauen beim Gehalt anzusetzen oder bei der Vereinbarung von Beruf und Familie, schickt man sie, nachdem sie diese Mühen hinter sich gebracht haben, früher in Pension. Das frühere Pensionsalter der Frauen ist kein erhaltenswertes Recht, sondern die Fortsetzung ihrer Unterordnung mit anderen Mitteln: Im Schnitt sind die Männer in den Ehen ein paar Jahre älter. Wenn sie in Pension gehen, wollen sie, dass die Frauen auch zu Hause bleiben und für sie kochen bzw. ihre alten Mütter pflegen.

Standard: Seit wann gibt es denn überhaupt so etwas wie Pensionen?

Lutz: Das ist eine relativ junge Errungenschaft. Früher haben fast alle Menschen gearbeitet, bis sie gestorben sind. Das war auch eine Überlebensfrage. Als 1889 in Deutschland die Rentenversicherung eingeführt wurde, lebten die Leute, wenn sie überhaupt das Rentenalter erreichten, im Durchschnitt noch zwei, drei Jahre. Die Demografen sind bei ihren Prognosen bis in die 1970er-Jahre davon ausgegangen, dass die Lebenserwartung nur bis etwa 76 Jahre steigen und sich dann stabilisieren würde.

Standard: Was nicht passiert ist.

Lutz: Richtig. Die Lebenserwartung steigt nach demografischen Berechnungen derzeit pro Jahrzehnt um zwei bis drei Jahre an, während das faktische Pensionsalter seit Jahrzehnten unangetastet bleibt. Entscheidend ist dabei nicht die Lebenserwartung bei der Geburt, sondern die bei Pensionsantritt. Und die durchschnittliche Österreicherin, die heute mit 57 in Pension geht, hat dann noch deutlich über 30 Jahre Leben vor sich, wenn man die künftige Verbesserung in der Lebenserwartung abschätzt.

Standard: Haben Sie die Versicherungen und die Politiker nicht ausreichend vor dem Problem gewarnt?

Lutz: Wir versuchten es. Ich erinnere mich noch gut, als wir Mitte der 1980er-Jahre vor den Folgen des demografischen Wandels für die Pensionsversicherungen gewarnt haben und als Reaktion nur wütende Anrufe bekam. Gewerkschafter haben uns beschimpft, wie wir die Leute so verunsichern könnten. Damals hätte man den Übergang noch schonend gestalten können, aber niemand sah dafür eine Notwendigkeit.

Standard: Warum nicht?

Lutz: Die Pensionsversicherer operieren mit einem Horizont von zwanzig, fünfundzwanzig Jahren. In den 1980er-Jahren begannen die geburtenstärksten Jahrgänge erst ins Erwerbsleben einzutreten. Inzwischen sehen die Kassen, was auf sie zukommt. Denn ab etwa 2020 werden diese Jahrgänge in den Ruhestand gehen. Die Politik tut sich heute noch schwerer, darauf zu reagieren, denn Ruheständler und diejenigen, die weniger als zehn Jahre davon entfernt sind, machen mittlerweile die Hälfte der Wählerschaft aus.

Standard: Gibt es in anderen Regionen der Welt ähnliche Probleme?

Lutz: In Ostasien - also insbesondere in Südkorea und Japan - verläuft der Alterungsprozess noch sehr viel dramatischer. In Südkorea etwa ist die Zahl der Geburten seit 1970 von mehr als fünf Kindern pro Frau auf etwas über ein Kind gesunken. Damit altert dort die Gesellschaft viel schneller.

Standard: Wie reagiert man in Ostasien darauf?

Lutz: Man ist verunsichert. Da in diesen Gesellschaften Einwanderung nicht sonderlich populär ist, müssen die Leute länger arbeiten. Die Japaner haben zwar auch ein gesetzliches Pensionsalter, aber danach kehren sie häufig zu ihrer alten Firma zurück und arbeiten dort für weniger Gehalt als vorher.

Standard: Wäre das auch in Modell für Österreich?

Lutz: Ich denke, dass es auch viele Österreicher gibt, die sich ihre Pension gerne aufbessern würden. Aber es gelten strenge Grenzen, bis wann man wie viel dazuverdienen darf, und die finanziellen Anreize zum Weiterarbeiten sind sehr gering. An mehr Flexibilität führt kein Weg vorbei. In den Firmen war die Bereitschaft bisher jedoch nicht sehr groß, Ältere zu behalten oder einzustellen.

(Quelle: DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.10. 2010)

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